SSBL Jubiläums-Beilage 2021
Auf dich ist immer Verlass. Mit dir finden wir die beste Lösung für uns. www.concordia.ch 6 Entwicklung der Psychiatrie in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen MEDIZINGESCHICHTE | Interview mit Julius Kurmann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie «Wir dürfen nicht in Stereotypen denken» Präventionsstrategie der SSBL ist ein Vorzeigemodell für die ganze Schweiz STEFAN RAGAZ Julius Kurmann, dass man Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen nicht mehr wegsperrt, sondern in die Gesellschaft integriert, ist auch ein Erfolg der Psychiatrie. Wie hat sich die Rolle der Psychiatrie in den letz- ten Jahrzehnten verändert? Julius Kurmann: Ich sehe die Ent wicklung als eine klassische Pendel- bewegung. Bis in die 1970er-Jahre wurden Menschen mit einer so genannten Intelligenzminderung tat- sächlich in Kliniken untergebracht, beispielsweise in Königsfelden oder in St. Urban. Darunter befanden sich vor allem Menschen mit Trisomie 21, viele starben früh. Dann schwang das Pendel in die Gegenrichtung. Mit der Sozialpädagogik und der Schaffung von «Lebensräumen» traten die heil- pädagogischen Zentren und sozial- pädagogischen Wohnheime an die Stelle der psychiatrischen Kliniken. Mit welchen Folgen – speziell für die Psychiatrie? Es gab kaum mehr Kontakte mit der Psychiatrie. Alle Störungen oder auch Verhaltensauffälligkeiten wurden mit der Behinderung erklärt. Und so schwang das Pendel zurück? Die schweren Auffälligkeiten, auch mit Aggressionen, überforderten die Sozialpädagogik. Vor etwa 15 Jahren wurde ich – damals als Chefarzt der Luzerner Psychiatrie – gebeten, «eine eigene Abteilung» zu gründen. Da gegen wehrte ich mich. Warum? Es wäre ein Rückschritt gewesen, sozusagen eine Abteilung für die schweren Fälle. Für mich war klar: Wir müssen die Menschen dort unter stützen, wo sie leben – in den Heimen. Das betrifft sowohl die Behinderten als auch die Betreuenden. Das bedeutete aber eine Anpassung in den Institutionen. Ja, und wir mussten tatsächlich etwas Druck aufsetzen, damit Konzepte an- gepasst und auch Intensivplätze ge- schaffen wurden. Dies ist dann in den Heimen der SSBL sowie in den heil pädagogischen Zentren in Schüpf- heim und in Hohenrain geschehen. Wie funktioniert dieseUnterstützung? Wir haben ein Modell geschaffen, das auf Konsilien beruht. Es ist ein Vorzeigemodell für die ganze Schweiz geworden. St. Gallen und der Aargau haben es übernommen. Was ist ein Konsilium? Es ist ein diagnostisches Mittel, um zu erkennen, was die Ursache für ein Problem ist. Handelt es sich um eine körperliche oder psychische Er krankung oder ist es eine Frage des Verhaltens? Wir arbeiten in Zweier teams – das heisst Heilpädagoge und Psychiater – und besprechen die Fälle mit den Betreuenden. Dabei müssen die Massnahmen immer auf den Menschen abgestimmt sein. Wir dürfen nicht in Stereotypen denken. Eine wichtige Form der Prävention. Ja, das ist der Kern. Eine frühzeitige Intervention vor Ort senkt auch die Zahl von Hospitalisierungen. Man darf nicht vergessen: Menschen mit Intelligenzminderung haben ein er- höhtes Risiko auch von akuten psychischen Erkrankungen, beispiels- weise Psychosen oder Depressionen. Was geschieht bei einer akuten Er- krankung? Wenn eine Hospitalisierung un vermeidlich ist, dann erfolgt eine Überweisung in die normale Akut abteilung in St. Urban. Das ist Teil des Konzeptes. Konsilien sind ein Teil der Erfolgs geschichte der Integration. Wie weit kann die Integration gehen? Darüber braucht es den gesell schaftlichen Diskurs. Wo sind die Grenzen der Selbstbestimmung? Wir kennen Beispiele aus Deutschland, wo es plötzlich zu Problemen mit Übergewicht und Alkohol kam. Und die Sexualität? Das ist ein heikles Thema. Auch in der Psychiatrie redet man kaum darüber. Wir müssen aber eingestehen, dass es diese Bedürfnisse gibt, und in einer Institution, in der Menschen dauer- haft leben, stellt sich die Frage, wie man mit Sexualität umgeht. Worauf muss die Institution achten? Sie muss vor Übergriffen schützen. Beziehungen dürfen nur aus freien Stücken entstehen. Und dann stellt sich die Frage, ob es Möglichkeiten der unbeobachteten Begegnung gibt. Rathausen hat schon vor Jahren ent- schieden, ein «Kuschelzimmer» ein- zurichten. Ist das eine gute Idee? Ja, ich denke schon. Wobei es nicht um «richtig» oder «falsch» geht, sondern darum, eine Haltung zu ent- wickeln und den «richtigen» Umgang mit dem Thema zu finden. In diesen Diskurs sind auch die Angehörigen einzuschliessen. Und noch einmal, auch in dieser Frage: Wir dürfen nicht in Stereotypen denken. Julius Kurmann (62) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er war Chefarzt des Psychiatriezentrums Luzern-Stadt (1996 bis 2006)undChefarztderStationärenDiensteder Luzerner Psychiatrie (2006 bis 2020). Seit diesem Jahr führt er eine eigene psychiatrisch- psychotherapeutische Praxis in Luzern. «Wir müssen die Menschen dort unter stützen, wo sie leben – in den Heimen.» Bild: zVg «z’mitts drin»
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