SSBL Jubiläums-Beilage 2021

Fortsetzung von Seite 4 Knapp ein halbes Jahr nach ihrer Gründung startete die Stiftung mit ihrer operativen Tätigkeit (siehe Be- richt oben). Neben den Tagesstätten kamen bald die erstenWohngruppen, später auch Wohnheime dazu (siehe Übersicht in der Grafik unten). 1993 zählte die Stiftung bereits 350 Mit­ arbeitende und betreute 233 Schwer- behinderte. Heute umfasst sie über 310 Wohnplätze, 75 Plätze für Tages- beschäftigte und 860 Mitarbeitende. Aus der Not wird eine Tugend Heute wird die Stiftung häufig mit «Rathausen» gleichgesetzt. In ihren Anfangsjahren hatte sie aber noch 1972 | Eröffnung des «Eichwäldli» in Luzern Als der Regierungsrat sogar die Dienstverweigerer lobte STEFAN RAGAZ 2. Mai 1972: Die erste Einrichtung der Stiftung für Schwerstbehinderte, wie sie damals hiess, nimmt ihren Be- trieb auf. In der Soldatenstube Eich- wäldli in Luzern wird eine Tages­ beschäftigungsstätte eröffnet, an- fänglich für elf Schwerstbehinderte, die – so das «Luzerner Tagblatt» in einer Reportage – «dankbar sind, dass die Soldaten heute bei ihrem Ausgang lieber in die Stadt gehen». Bei der Beschäftigung werde «auf die Erzielung einer produktiven Arbeit vezichtet», verdeutlichte das «Tagblatt». Vielmehr wolle «die Be- schäftigungsstätte, wie der Name sagt, Beschäftigungstherapie bieten, diemit fröhlichemSpiel unterbrochen wird». «Eichwäldli» war ein Glücksfall Dennoch freue man sich, wenn auch ein konkreter Arbeitsauftrag anstehe, etwa «die Rückgewinnung von Ein- satzstücken aus Sicherungen, die von drei bis vier Burschen mit Freude auf- geknackt werden, oder durch Einpa- cken von Kerzen». 1972 startete der «Eichwäldli»-Betrieb mit elf Männern im Alter zwischen 17 und 40 Jahren. Dass es damals gelang, die ehe- malige Soldatenstube zu mieten, wurde als Glücksfall bezeichnet: «Das einfache, aber freundliche Haus hat die ideale Grösse für den neuen Zweck. Zudem liegt es günstig, ab- seits von belebtemVerkehr bei einem kleinenWald, der zwischenhinein von den Behinderten in Beschlag ge­ nommen werden kann», schrieb das «Tagblatt» bei einemAugenschein im November 1972. Essen aus dem «Militärgarten» Schon damals wurde Wert darauf ge- legt, dass Menschen mit schweren Behinderungen «unter sorgfältiger Anleitung ihre schwachen Kräfte ent- falten und sich beschäftigen lernen» und dass sie gleichzeitig «auch in lebenswichtigen Belangen gefördert werden». So holten «drei kräftige Bur- schen eigenhändig das Essen im nahegelegenen Restaurant Militär- garten». Eigenständig seien auch ei- nige in das «Eichwäldli» gekommen, die Mehrzahl aber mit einem Taxi- dienst um 9 Uhr geholt und um 17 Uhr heimgebracht worden. Wie ein «fröhlicher Kindergarten» «Auf den ersten Blick gleicht die Be- schäftigungsstätte einem fröhlichen Kindergarten», schrieb das «Tagblatt» in seiner Reportage. Leider würden aber Erwachsene beherbergt, «die «Damit soll die als Diskriminierung empfundene Heraushebung durch das Wort ‹Schwerstbehinderte› aufgehoben werden.» «Uns beeindruckte aber auch die Tatsache, dass dort Dienstverweigerer so segensreich wirken, dass selbst Regierungsrat Dr. Karl Kennel mit Lob und Anerkennung nicht zurückhielt.» 5 Geschichte der SSBL – Teil der Sozialgeschichte des Kantons Luzern nichts mit Klostermauern zu tun. Sie kam erst 1983 nach Rathausen – und dies auch eher aus Not, aus der Not des Kantons Luzern. Für den Kanton war Rathausen nämlich schon immer eine Hypothek gewesen. Und nun, in den 1970er- und 1980-Jahren, ging auch die Nachfra- ge nach Heimplätzen für Kinder und Jugendliche in der Erziehungsanstalt zurück. Da kam die Stiftung für Schwerstbehinderte wie gerufen: Sie füllte die Klostermauern mit einem neuen, sinnvollen Zweck. 1987 wurde das Internat des Er­ ziehungsheimes geschlossen, 1988 auch die Tagesschule. Beide wurden in die Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg in der Stadt Luzern verlegt. 1989 erfolgte die formale Fusion der beiden Stiftungen (Erziehungsheim und Stiftung für Schwerstbehinderte). Dabei wurde das Eigentum an den Grundstücken an die neue Stiftung übertragen, die auch ihren Namen änderte – in «Stiftung für Schwerbe- hinderte Luzern» (SSBL). «Mit dieser Änderung», so die regierungsrätliche Botschaft von 1989, «soll die als Diskriminierung empfundene Heraus- hebung dieser Personengruppe mehr Fürsorge und Hilfe zum Leben brauchen als Kindergartenkinder». Und: «Hier braucht es mehr Geduld, bis ein geistig oder körperlich sehr schwer Behinderter in der Lage ist, ein Kleidungsstück richtig zuzuknöpfen.» Wie dringend die Schaffung einer Beschäftigungsstätte war, fand auch Niederschlag in der Berichterstattung der Medien. Zwar seien erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen, doch «einige der Behinderten könnten heute bedeutend weiter sein, wenn sie rechtzeitig erfasst worden wären», so das «Luzerner Tagblatt». «Sicher ist, dass es den meisten gefällt. Sie, die ohne Beschäftigungsstätte ent- weder zum Herumsitzen verurteilt wären oder ihren Familien eine auf die Dauer fast unzumutbare Belastung seinmüssten,findenhierwillkommene Abwechslung.» Die ehemalige Soldatenstube am Murmattweg in Luzern diente der Stiftung für Schwerbehinderte von 1972 bis 2006 als Tagesstätte. Betreut wurden die elf Schwerst- behinderten, wie man damals sagte, von einem «Vorsteher» und drei Gruppenleiterinnen – und offenbar von Dienstverweigerern. Zumindest lässt sich dies aus einem nicht ganz unpolitischen Nachsatz in der Bericht- erstattung des «Luzerner Tagblatt» schliessen. «Wer die Beschäftigungs- stätte Eichwäldli besucht, ist be­ eindruckt», schrieb die Tageszeitung. «Uns beeindruckte aber auch die Tat- sache, dass dort Dienstverweigerer so segensreich wirken, dass selbst Re­ gierungsrat Dr. Karl Kennel mit Lob und Anerkennung nicht zurückhielt.» Karl Kennel (CVP), Sanitäts- und Fürsorgedirektor des Kantons Luzern sowie Präsident der Stiftung für Schwerstbehinderte, war an dem Medientermin im November 1972 an- wesend. durch dasWort ‹Schwerstbehinderte› aufgehoben und die Einprägsamkeit des Namens erleichtert werden.» Gleichzeitig wurde der Aus- und Um- bau der Klosteranlage für die Zwecke der Stiftung vorbereitet. Schon damals hielt der Regierungsrat in seiner Botschaft fest: «In sich ge- schlossene Institutionen für Be­ hinderte laufen Gefahr, nach aussen zu wenig Kontakt zu pflegen und von aussen kaum gesellschaftlich mitein- bezogen zu werden. Diese Tendenz besteht insbesondere bei Institutionen, die Schwerbehinderten dienen. Die vorbereitenden Arbeitsgruppen für Rathausen kamen deshalb zur Er- kenntnis, dass in Rathausen [...] zu- sätzlich eine Öffnung und Verbindung [...] in verschiedene gesellschaftliche Bereiche gefunden werden [soll].» Dies geschah durch die Stiftung selber, die Rathausen seither zu einem öffentlichen Begegnungs- und Nah­ erholungsraum entwickelt hat – mit Café, Restaurant, Gärtnereiladen und Geschenkshop. Damit schloss sich auch der Kreis zwischen Kloster und Staat. Denn auch für das Nutzungs- konzept der Stiftung gilt der klöster- liche Gedanke: «Ora et labora et lege». 1988/1989: Tagesstätte in Rathausen und Sursee 1988: Übernahme der Stiftung Erziehungsheim Rathausen 1994/1995: Wohnhäuser Rothorn und Titlis in Rathausen 2008: Lernatelier in Wolhusen (Ergänzung zu Kinderheim Weidmatt) 2008: Wohnhaus in Hitzkirch 2017: Wohnhäuser Klewen, Mythen und Rigi in Rathausen mit Intensivbetreuung (Ersatz auch für Horw, Matthofgarten Luzern, Dagmersellen, Menz- nau und Willisau) 1990 Namensänderung in Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) 2007: Pavillon mit öffentlichem Café in Rathausen 2016: Abschluss der Kloster- sanierung in Rathausen 2021: Umzug des Kinderhauses Weidmatt in die Wisstanne Wolhusen 1982: Wohngruppe in Horw (Villa Stäge) 1985 bis 1988: Wohngruppen in Willisau, Menznau, Luzern (Matthofgarten) und Rathausen 1990 bis 1992: Wohngruppen in Zell, Willisau, Emmenbrücke, Kastanienbaum, Dagmersellen (Ersatz für Sursee) 2000: Wohnhaus in Bad Knutwil 2001/2002: Wohngruppen in Pfaffnau und Reiden 1995 bis 1998: Wohngruppen in Triengen, Grosswangen und Hitzkirch 2006: Wohnhaus Eichwäldli (auch Ersatz für Kastanien- baum) 2005: Wohngruppe in Hergiswil b. Willisau (Ersatz für Grosswangen) 2010/2011: Provisorische Pavillons für Wohngruppen in Menznau und Rathausen; Beginn der Erweiterung in Rathausen 2005: Wohnhaus in Schüpfheim 2006: Gründung der ehrenamt- lichen Interessengemeinschaft der Angehörigen und Vertretungen 2003: Wohngruppe in Emmen 2002: Tagesstätte Triva in Littau, gemeinsames Angebot der Stiftungen Brändi und SSBL 1993: Wohngruppe in Buch rain 1985: Integration des Heilpädagogischen Kinderhauses Weidmatt in Wolhusen (gegründet 1952) 1992: Erstes Wohnhaus (Wisstanne in Wolhusen) 1983: Übernahme des leer­ stehenden Kinderdörfli Rathausen 2021: Eröffnung der neuen Parkanlage in Rathausen 2021: Restaurierung der Klosterkirche in Rathausen Luzern Stiftung für Schwerbehinderte Luzern 1990–2021 Bild: Archiv SSBL

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