SSBL Jubiläums-Beilage 2021

ENTSTEHUNG DER SSBL | An die Stelle der katholischen Kirche trat der moderne Sozialstaat. Ausdruck der sozialen Verantwortung Mit der Schaffung der SSBL engagierte sich der Kanton Luzern auch für die Schwächsten STEFAN RAGAZ Als wäre der Kontrast gewollt: Um­ geben von den hohen Mauern des Klosters, das heute noch Würde und Glanz ausstrahlt, das in der jüngeren Luzerner Geschichte aber vor allem für Autorität und Macht(missbrauch) stand, leben hier heute Menschen, die nicht nur auf Fürsorge angewiesen sind, sondern auch Respekt erhalten. Wo sonst trifft ein dunkles Kapitel der Geschichte in einer derartigen Prägnanz auf sein modernes Gegen- bild? Hier, in Rathausen, wo einst Heim­ kinder von der katholischen Kirche missbraucht wurden, gibt es keinen Raum mehr für die «Schwarze Päda­ gogik eines strafenden, gestrengen Gottes» – für eine Pädagogik, die Menschen, die nicht der Norm ent­ sprechen, als Schöpfungsfehler be- trachtete, seien es Schwererziehbare, Homosexuelle oder Behinderte. Man stelle sich vor: Noch in den 1980er-Jahrenwurde Aids in einemLeitartikel der konservativen Tageszeitung «Vaterland» als eine «Geissel Gottes» bezeichnet, als die gerechte Strafe für Drogensüchtige und Schwule. Heilpädagogik schon 1904 Dabei hatten sich die Zeiten schon längst zu ändern begonnen – auch in Luzern. Unter dem Eindruck der In- dustrialisierung übernahm der Staat immer mehr Verantwortung gegen- über den Schwächeren – vor allem den Arbeitern und Kindern. Nach der Einführung der Schul- pflicht im 19. Jahrhundert wurde das Bedürfnis nach einer besonderen Be- treuung und Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten immer offen- sichtlicher. 1889 wurde das neue Er- ziehungsgesetz des Kantons Luzern verabschiedet. Darin enthalten war die Forderung nach einer Anstalt für den Unterricht und die Erziehung von «schwachsinnigen bildungsfähigen» Kindern. 1904, in der Zeit des entstehenden Sozialstaates, machte der Grosse Rat ernst und bestimmte die ehemalige Kommende Hohenrain als Ort für die Einrichtung. Damit schuf er auch eine Institution für die heilpädagogische Förderung. Durchbruch erst mit der IV Allerdings dauerte es in der Schweiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bis die grossen Sozialwerke entstanden: 1948 zunächst die Alters- und Hinter- bliebenenversicherung (AHV), 1959 dann die Invalidenversicherung (IV). Entscheidend für die Errichtung der ersten Behinderteninstitutionen war denn auch die IV. 1964 überwies der Grosse Rat des Kantons Luzern gleich zwei Motionen, die Anlern­ werkstätten und eine «beschützende Werkstatt» wie auch Wohnheime für Behinderte forderten. 1968 entstand daraus die Stiftung Brändi mit einer Eingliederungs- und Dauerwerkstätte in Horw. Allerdings war das «Brändi» nicht für die Auf- nahme von Schwerbehinderten vor- gesehen. Schon zuvor hatte die zuständige Sozialkommission des kantonalen Parlaments erkannt, dass es «sehr unterschiedliche Bedürfnisse von Be- hinderten» gibt; erst 1970 setzte sie aber eine Subkommission ein, die schliesslich beantragte, eine «Be- schäftigungsstätte für Schwerstbe- hinderte in Luzern» zu schaffen. Da- mit waren die politischenWeichen für die Gründung der Stiftung für Schwerstbehinderte gestellt, konkret für die finanzielle Beteiligung des Kantons Luzern. Mit einem Stiftungsvermögen von 220 000 Franken, an dem sich der Kanton Luzern mit 100 000 Franken beteiligte, wurde die «Stiftung für Schwerstbehinderte Luzern» am 16. November 1971 gegründet. Initiiert wurde die Stiftung von Eltern- und Behindertenvereinigungen: • Verein der Eltern und Freunde geistig Behinderter (heute Insieme), • Schweizerische Vereinigung zu- gunsten cerebral gelähmter Kinder, Regionalgruppe Zentralschweiz, (heute Cerebral Zentralschweiz) und • Pro Infirmis. Fortsetzung auf Seite 5 1968 entstand die Stiftung Brändi mit einer Eingliederungs- und Dauerwerkstätte in Horw – allerdings nicht für Schwerbehinderte. 4 «z’mitts drin» Geschichte der SSBL – Teil der Sozialgeschichte des Kantons Luzern 1883: Gründung der «Verpfle- gungs- und Erziehungsanstalt für arme Kinder» durch den Kanton Luzern im ehemaligen Zisterzienserkloster Rathausen 1904: Kanton Luzern beginnt heilpädagogische Förderung von Kindern und jungen Er- wachsenen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung 1971: Gründung der Stiftung für Schwerstbehinderte Luzern 1959: Eidgenössisches Gesetz über die Invalidenversicherung Geschichte Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL 1978: Erste Wohngruppe (Linde in Gunzwil) 1968: Gründung der Stiftung Brändi mit Eingliederungs- und Dauerwerkstätte in Horw (nicht für Schwerbehinderte) 1978: Erste Tagesstätte auf der Landschaft (Kommetsrüti in Wolhusen) 1964: Forderungen im Kanton Luzern nach Anlehrwerkstät- ten, geschützten Arbeits- plätzen und Wohnheimen für Behinderte 1972: Erste Beschäftigungs- tagesstätte (Eichwäldli in Luzern) Erziehungsanstalt Rathausen 1934–1942 Erziehungsheim Rathausen 1942–1951 Kinderdörfli Rathausen 1951–1971 Stiftung für Schwerstbehinderte 1971–1990 Verpflegungs- und Erziehungsanstalt für arme Kinder 1883–1933 Heute ist das Kloster Rathausen zu einem Begegnungsort geworden (Bild vom Tag der offenen Tür nach der Klostersanierung von 2016). Schon früh war die SSBL auch auf der Landschaft präsent. 1952 war das Heilpädagogische Kinderheim Weidmatt in Wolhusen (oben rechts) von drei Schwestern aus Wolhusen gegründet worden, 1985 ging es an die SSBL über – unten rechts die drei Gründerinnen: Maria, Josy und Anna Leberer (von links). Bilder: Jutta Vogel (links) und Leberer-Stiftung Weidmatt, Wolhusen (rechts)

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