SSBL Jubiläums-Beilage 2021
Schüpfheim | Inklusion bedeutet Teilnahme am Dorfleben. «Sie alle gehören zu unserem Dorf» Neben dem Hauptsitz in Rathausen gehören zehn weitere Standorte zur SSBL. Ein Besuch im Wohnhaus Gärtnerhüsli in Schüpfheim zeigt, wie das Motto «Z’mitts drin» im Alltag gelebt wird. Daniel Schriber Als Michaela Wyss die Tür zu Nicole Franks Zimmer öffnet, wird sie von ei- nem fröhlichen Lächeln begrüsst. Ni- cole weiss, dass nun das Znüni im Gar- ten vor dem Wohnhaus Rigi auf dem Programm steht. Ruhig lässt sich die 32-jährige Autistin von ihrer 23-jähri- gen Betreuerin an der Hand nehmen. Draussen warten ein Glas Sirup und ein Teller mit einem Apfel und einer Orange auf sie. «Welche Frucht möch- test du heute?», fragt Michaela Wyss – und schon wandert Nicoles Hand zum gelben Apfel. «Soll ich ihn in Schnitze schneiden?» – «Ja!», ruft Nicole ver- gnügt. Zwischen den Bissen unterhält sie sich angeregt mit ihrer Betreuerin. Michaela Wyss und ihre Kollegin- nen begleiten täglich von früh bis spät Menschen mit geistiger und mehrfa- cher Behinderung. Obwohl sich deren Fähigkeiten und Bedürfnisse zum Teil stark unterscheiden, bleibt das Ziel immer dasselbe: «Wir wollen die grösstmögliche Lebensqualität unse- rer Klienten gewährleisten.» Wichtig sind Wahlmöglichkeiten Im Fokus stehen dabei unter anderem die Wahl- und Entscheidungsmöglich- keiten. Wer denkt, die Wahl zwischen einer Orange und einem Apfel habe wenig mit Selbstbestimmung zu tun, der irrt. «Hätte Nicole die komplett freie Wahl, würden wir sie komplett überfordern», erklärt Michaela Wyss. Der stark strukturierteAlltag sei für die Klientin denn auch nicht einengend. «Vielmehr bietet er ihr die Möglichkeit, sich innerhalb einzelner Sequenzen im kleinen Rahmen zu entfalten.» Mit Nicole Frank leben in derWohn- gruppe im ersten Stock des Wohnhau- ses Rigi vier Klienten mit Autismus- Spektrum-Störungen. Sie haben mas- sive Wahrnehmungsstörungen durch ungefiltertes Sehen, übersensibles Hö- ren oder taktile Überreizung. «Genau deshalb haben wir auf jede Bewohne- rin persönlich zugeschnittene und durchstrukturierte Tagespläne», sagt Wyss. Dies garantiere eine Orientie- rung in Zeit, Raum und Handlung. «In dem nichts Unerwartetes in ihr Leben platzt, haben sie die Chance, zur Ruhe zu kommen.» Dazu gehört auch, dass die Räume imWohnhaus bewusst reiz arm ausgestattet sind. Aggressionen gehören zum Alltag DieArbeit findetWyss «spannend und bereichernd». Dabei verschweigt sie nicht, dass es bisweilen auch schwieri- ge und heikle Situationen gibt. So ge- hört der Umgang mit Aggressionen zumAlltag des entsprechend geschul- ten Betreuungsteams.. «Manchmal kann die Stimmung einer Klientin oder eines Klienten ohne Vorzeichen kip- pen.» Glücklicherweise sei dieWut der Betroffenen häufig nach kurzer Zeit verschwunden. «Manchmal reicht schon eine kurze Pause, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen.» Apropos Pause: Diese ist für Nicole Frank nun wieder vorbei. Dafür gibt es ein Highlight. Gemeinsam mit Michae- la Wyss backt sie Brownies, die zum Zvieri serviert werden. Als sie nach ge- taner Arbeit genüsslich den Löffel mit der Schokomasse ableckt, deutet so gar nichts darauf hin, dass diese fröh- liche junge Frau etwas anders ist als die meisten Menschen in ihrem Alter. Betreuer René Egli (Mitte) führt Antoinette Emmenegger und Andi Suter sicher zum Dorfladen in Schüpfheim. Nicole Frank (rechts) und ihre Betreuerin Michaela Wyss beim Backen von Brownies. 11 Wohngruppen und Wohnheime der SSBL Daniel Schriber Antoinette Emmenegger schreitet mit zackigen Schritten voran und zieht den Einkaufstrolley hinter sich her. Andi Suter, der wie üblich mit dem Rollator unterwegs ist, nimmt es ge- mütlicher. Das Ziel der beiden ist je- doch dasselbe: Gemeinsammit ihrem Betreuer René Egli steuern die Be- wohnenden des SSBL-Wohnhauses Gärtnerhüsli den Dorfladen in Schüpf- heim an. Vor dem Eingang gehen die drei nochmals die Einkaufsliste durch: Orangensaft, Sirup, Tee, Mais, Jo- ghurt und noch einige weitere Pro- dukte sollen besorgt werden. Als das Trio den Laden betritt, wird es sofort von der Verkäuferin begrüsst: «Salü Antoinette, schön dich zu sehen!» Auch andere Kundinnen halten einen Schwatz mit Antoinette und Andi. Man kennt sich, man duzt sich, man hebt die Hand zum Gruss. Offener, rücksichtsvoller Umgang Inklusion. Das ist ein Begriff, der imZu- sammenhang mit der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen häufig fällt. Was theoretisch klingt, lässt sich bei einemBesuch in Schüpf- heim ganz direkt miterleben. Hier fin- det die Inklusion nicht bloss auf dem Papier, sondern täglich auf der Stras- se, in der Käserei, beim Bäcker oder eben im Dorfladen statt. «Die Menschen der SSBL gehören zu unserem Dorf», sagt Ruth Röösli, seit 20 Jahren als Verkäuferin imDen- ner tätig. Ähnlich tönt es bei Sibylle Dahinden und Margrit Heini-Ziswiler. Auch die beiden Teamleiterinnen des Wohnhauses Gärtnerhüsli schätzen den Austausch mit der Bevölkerung. «Der Umgang mit Menschen mit Be- hinderungen ist für die Leute hier ganz normal.» Die Bevölkerung pfle- ge einen offenen, rücksichtsvollen Umgang mit den Klientinnen und Kli- enten der SSBL. Dass die SSBL und ihre Bewoh- nenden in Schüpfheim so präsent sind, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist die Lage: Das Wohnhaus befindet sich nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Zudem führt ein öffentlicher Spazierweg mitten durch das SSBL-Gelände. Die Klientin- nen und Klienten sind aber auch des- halb so gut integriert, weil sich die SSBL seit jeher um eine aktive Teilnah- me am Dorfleben bemüht. «Ob beim Alpabzug, an der Fasnacht oder am traditionellen KaltenMarkt: Unsere Be- wohnerinnen und Bewohner sind im- mer mittendrin», so Sibylle Dahinden. Darüber hinaus lädt die SSBL die Be- völkerung regelmässig zu sich ein; so findet jedes Jahr eine Stubete im Ge- meinschaftssaal des Gärtnerhüsli statt. Das Gärtnerhüsli ist keine Ausnah- me. «Auch wenn alle Standorte etwas anders ticken, haben sie doch eines gemeinsam: Sie alle sind in der Regel sehr stark in den jeweiligen Gemein- den verankert», sagt Christiane Tutte, die als Bereichsleiterin für die Stand- orte Schüpfheim, Hergiswil b. Willi- sau, Knutwil, Reiden und Pfaffnau verantwortlich ist. «Mit Ausnahme von Bad Knutwil und Rathausen befinden sich alle Standorte im Dorfkern. Für uns ist es sehr wichtig, einen guten Draht zur Be- völkerung zu haben.» In Hergiswil zum Beispiel finden die Teamleiter-Sitzun- gen im Gemeindehaus statt, in Pfaff- nau wird in der Mehrzweckhalle ge- turnt. «Auch zu den Kirchgemeinden pflegen wir einen guten Kontakt.» Kommunikatives Geschick gefragt Neben vielen schönen Seiten bringt die Nähe zu den Gemeinden aber auch Herausforderungen mit sich. «Es kam schon vor, dass sich Leute gestört fühlten», so Tutte. In solchen Fällen sei kommunikatives Geschick gefragt. Bei unserem Besuch im Dorfladen ist das nicht nötig. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich. Als Antoi- nette, Andi und René ihren Einkaufs trolley gefüllt und den Laden verlas- sen haben, winkt ihnen dieVerkäuferin Ruth Röösli nach. «Uf Wederluege!» Intensivbetreuung | Besuch imWohnhaus Rigi in Rathausen Hier entfalten sich Menschen in kleinen, begleiteten Schritten Prominente Botschafterinnen und Botschafter der SSBL Die SSBL ist fest im Kanton Luzern verankert. Dafür stehen nicht nur die verschiedenen Standorte, die über das ganze Kantonsgebiet ver- teilt sind, sondern auch zahlreiche Botschafterinnen und Botschaf- ter aus Politik, Sozialbereich, Kultur, Sport, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Zu den prominenten Unterstützerinnen und Unterstützern gehören zum Beispiel Adrian Derungs (Direktor der Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz), Fanni Fetzer (Direk- torin des Kunstmuseums Luzern) oder die bekannte Opernsängerin Regula Mühlemann. Als Schwester einer jungen Frau mit Down-Syn- drom kennt Mühlemann die SSBL und ihre Leistungen gut. «Was mich neben den Begegnungen mit Menschen mit Behinderung immer am meisten beeindruckt, ist die Geduld der Betreuungspersonen. Dieser Arbeit gilt mein grösster Respekt und meine tiefe Bewunderung.» ssbl.ch/botschafter Einblick in den Alltag An 14 Kurzfilm-Stationen in Rathausen, unter kundiger Führung oder autonom, er- halten Besuchende ab Feb- ruar 2022 einen umfassenden Einblick in den Alltag von Menschen mit Behinderung, begleitet und betreut durch die SSBL. Anmeldung unter ssbl.ch/fuehrungen Bild: Jutta Vogel Bild: Jutta Vogel
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